„Der Tango hat eine große therapeutische Kraft“

Tanzlehrer und Bewegungstherapeut Thomas Rieser spricht über seine ersten Schritte auf dem Tanzparkett, den Aufbau der Schule Nou und die heilsame Wirkung des Tangos.

Thomas Rieser unterrichtet beim inklusiven Tangoprojekt Spreefeld Tango. Foto: Ule Mägdefrau
Thomas Rieser unterrichtet beim inklusiven Tangoprojekt Spreefeld Tango. Foto: Ule Mägdefrau

Du unterrichtest seit fast zwanzig Jahren. Erinnerst du dich noch an deine Anfänge als Tangotänzer?

Na klar. Das Lernen im Unterricht fiel mir nicht sonderlich schwer, aber das Auffordern auf Milongas war für mich eine große Hürde. Ich schaute lange nur zu und traute mich nicht, die Frauen, mit denen ich gern getanzt hätte, anzusprechen. Die Szene war viel kleiner als heute und Tänzer um die 20 konnte man an zwei Händen abzählen. Nach und nach lernte ich mehr Leute kennen, unter ihnen auch Hagen. Der hatte gar keine Probleme, Tänzerinnen aufzufordern (lacht).

Du meinst Hagen Schröter, deinen langjährigen Co-Geschäftsführer im Nou?

Genau. Aber lange bevor unsere Zusammenarbeit begann, waren wir gemeinsam auf Milongas unterwegs. Als Experiment nahmen wir uns vor, keine Figuren zu tanzen, sondern nur musikalisch zu gehen. Und das hat funktioniert! Keine unserer Tanzpartnerinnen hat sich beschwert, dass das langweilig sei.

Thomas Rieser

  • Aufgewachsen im Ruhrgebiet
  • Seit 2000 in Berlin
  • Ausgebildeter Bewegungslehrer und -therapeut
  • Tanzt Tango seit 1998
  • Unterrichtet Tango seit 2004
  • Geschäftsführer der Tanzschule Nou Tango Berlin
  • Mitveranstalter des inklusiven Projekts Spreefeld Tango

Was empfiehlst du deinen Schülerinnen und Schülern, ab wann sie Milongas besuchen sollten?

So früh wie möglich. Man lernt auch beim Zuschauen und Zuhören viel, selbst wenn man nicht gleich tanzt. Auf einer guten Milonga spürt man die soziale Kultur, die den Tango ausmacht. Man betritt den Raum und merkt, dass da etwas Besonderes passiert. Einen Raum zu schaffen, in dem Tango als soziales Phänomen im Hier und Jetzt leben kann – darum geht es mir auch bei der Freitagsmilonga im Nou. 

Erzähl doch bitte von den Anfängen der Tanzschule.

Los ging es 2004 in Charlottenburg in einer ehemaligen Schmiede, in der ich nicht nur Tango veranstaltet habe. Die anderen Sachen – Kunstausstellungen und Bildungsseminare – haben sich mit der Zeit überlebt, und so ist Tango geblieben. Zunächst unterrichtete ich mit Susanne Opitz, die später zusammen mit Rafael Busch das „Tangotanzen macht schön“ gründete. Nach und nach wuchs die Schule, Ilka Puschmann und Hagen kamen als Lehrer dazu. 2008 wurde der Raum zu klein für die Milongas und wir mieteten einen zusätzlichen Raum im Prenzlauer Berg, den wir El Yeite tauften. Damals unterrichteten wir an beiden Standorten mit insgesamt acht Lehrern. Aber auch der neue Raum war nicht optimal und so sind wir 2010 in der Chausseestraße gelandet, wo wir uns alle sehr wohlfühlen.

Was würdest du sagen, was eure Schüler besonders an euch schätzen?

Dass wir als Team sehr gut funktionieren – nicht nur die Lehrer, sondern auch die Helfer. Alle bringen sich gern ein und das spüren die Schüler. Jeder Lehrer hat seinen eigenen Stil, wir sind ganz unterschiedliche Typen, wobei sich die Technik, die wir unterrichten, nicht zu sehr unterscheidet. Und wir bilden gemeinsam mit früheren und aktuellen Schülern eine tolle Gemeinschaft. Die Spendenbereitschaft während der Pandemie war sehr groß und wenn wir sonst Hilfe brauchen, zum Beispiel beim Renovieren, sind die Freunde des Nou zur Stelle. Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung der vielen Menschen, denen am Erhalt des Nou gelegen ist. 

Milonga im Nou. Foto: Ishka Michocka

Wie nimmst du die Berliner Tangoszene insgesamt wahr? 

Auch wenn die Szene grundsätzlich freundlich und aufgeschlossen ist, sind viele Tangotänzer doch ziemlich selektiv in der Auswahl ihrer Tanzpartner. Es tanzt nicht jeder mit jedem. Dabei widerspricht das dem Gedanken des Tangos. Als Milongaveranstalter versuche ich, der Cliquenbildung entgegenzuwirken, damit alle eine gute Zeit haben. Wenn jeder Gast pro Abend eine Tanda mit jemand Unbekanntem tanzt, genügt das schon. Dann entsteht eine ganz andere Stimmung.

Du bietest regelmäßig inklusiven Tangounterricht an. Wie unterscheidet der sich vom üblichen Unterricht?

Manche Schüler brauchen eine besondere Unterstützung durch uns Lehrer. Blinde Tänzer sehen zum Beispiel nicht, was wir vortanzen. Gehörlose hören die Musik nicht, können einem Hörenden aber folgen und so den Tango erleben. Andere Schüler haben soziale Phobien und würden sich sonst gar nicht in eine Tanzschule trauen. Ihnen hilft der geschützte Raum. Am Unterricht nehmen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung teil, wir können also tatsächlich von Inklusion sprechen. Es ist toll zu erleben, was für eine therapeutische Kraft der Tango entfaltet. Dieses Potenzial schöpfen wir allerdings noch lange nicht aus. 

Wie meinst du das?

Wir konzentrieren uns vor allem auf den Spaß, den der Tanz und die Musik bringen, was auch schön und berechtigt ist, aber Tango kann noch viel mehr sein als ein schöner Zeitvertreib. Er kann zum Beispiel in Managementseminaren ein neues Bild von Führen vermitteln. Oder Krebspatientinnen und -patienten dabei unterstützen, besser mit den Nebenwirkungen ihrer Therapie fertigzuwerden. Die gesundheitliche Dimension des Tangos, seine heilende Wirkung ist bislang kaum erforscht. 

Bist du selbst in der Richtung aktiv?

Ich promoviere an der Charité mit einer Tanzstudie mit Krebspatienten und kooperiere dazu mit dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe. Ich habe Kunstgeschichte und Philosophie studiert und als gelernter Bewegungstherapeut und Tangolehrer ein ziemlich seltenes Profil. Dadurch habe ich die Möglichkeit bekommen, als Quereinsteiger auf diesem Gebiet zu forschen. Eine tolle Chance! Die erste Studie mit 60 Patientinnen ist gerade fertig geworden und sie zeigt: Der Tango hilft tatsächlich dabei, die Nebenwirkungen der primären Therapie wie Fatigue oder Schlafschwierigkeiten besser zu verkraften. Eine zweite, größere Studie mit vier Brustkrebszentren ist aktuell in Vorbereitung. 

Was würdest du gern mit dem Wissen und dem Doktortitel anfangen?

Im medizinischen Bereich arbeiten, forschen und die Therapie von Patienten mithilfe des Tangos unterstützen. Das fände ich sehr spannend und erfüllend. Und ich hätte damit ein zweites Standbein neben der Tätigkeit im Nou. Das Unterrichten würde ich allerdings nicht aufgeben wollen – das mache ich doch zu gern.

Weitere Interviews mit Berliner Tangogrößen lest ihr im Tango-Guide Berlin.