„Das Stereotyp der folgenden Frau entspricht nicht meinem Selbstbild“

Die Berliner Queer-Tango-Community ist die größte der Welt. Astrid Weiske, Organisatorin des Queer-Tango-Festivals, spricht über Rollenbilder im Wandel und ihren Wunsch nach mehr Austausch in der Szene.

Astrid Weiske mit Tanzpartnerin
Astrid Weiske unterrichtet in Berlin und tourt weltweit als Gastlehrerin. Foto: Archiv Astrid Weiske

Wie groß ist die Gemeinschaft der tangotanzenden Schwulen, Lesben, Inter- und Transsexuellen in Berlin?

Ich würde mal schätzen, dass wir so etwa 100 bis 120 aktiv Tanzende sind. Damit ist die Berliner Queer-Tango-Community die größte der Welt.

Warum braucht es spezielle Kurse und Milongas für queere Tangueros und Tangueras? Ist die Berliner Szene nicht offen für alle?

Schwule, Lesben, trans- und intersexuelle Menschen haben nach ihrem Outing ein starkes Bedürfnis, sich in ihrer eigenen Community zu bewegen, wo sie nicht ständig in Frage gestellt werden. Sie werden in einer heteronormativen Tanzschule – auch wenn das Rollenverständnis dort sehr fortschrittlich ist – immer wieder mit traditionell eingestellten Männern und Frauen konfrontiert. Darauf haben sie keine Lust. Aber ich ermutige meine Schüler*innen immer, auch zu anderen Milongas zu gehen. Gerade viele Fortgeschrittene machen das auch. 

Und andersherum? Tanzen auch heterosexuelle Tänzerinnen und Tänzer in der Queer-Community?

Leider nur wenige. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Austausch gibt. Bei uns ist jeder willkommen, unabhängig von Rollenpräferenz, sexueller Orientierung oder Genderidentität. Zurzeit gibt es die Weibermilonga, MilongAmiga, Queerkultural und Tango zum Glück als regelmäßig stattfindende Milongas. Einfach vorbeikommen!

Wird dort nicht erwartet, dass man beide Rollen tanzt?

Das Wichtigste ist, dass man offen dafür ist, mit ganz unterschiedlichen Menschen zu tanzen. Ich bin eine große Verfechterin davon, dass jeder das Führen und das Folgen lernen sollte, weil das das Verständnis für den Tanz und den Tanzpartner enorm verbessert. Wenn man gleichgeschlechtlich tanzt, muss man sich sowieso immer wieder neu darüber verständigen, wer führt und wer folgt. Aber auf queeren Milongas ist der Rollenwechsel natürlich kein Muss. 

Astrid Weiske:

Inzwischen lernen auch viele heterosexuelle Tänzerinnen und Tänzer beide Rollen …

Ja, das ist eine große Welle. Da sieht man den Einfluss der Queer-Bewegung! Ich finde schön, wenn die Szene insgesamt offener wird. Viele Frauen lernen das Führen, um tänzerisch mehr Optionen zu haben und selbstbestimmter tanzen zu können. Die Männer sind nach wie vor resistenter, sich mit der folgenden Rolle zu beschäftigen, obwohl sie diese Erfahrung auch beim Führen weiterbringen würde. Die Technik für beide Rollen ist ohnehin die gleiche. Geschlechtsspezifische Workshoptitel wie „Frauentechnik“ sind doppelt irreführend.

Inwiefern?

Sie schließen folgende Männer aus und suggerieren, dass führende Männer mit der dort gelehrten Technik nichts anfangen können. Aus meiner Sicht sind alle Tanzbewegungen im Tango rollenneutral. Führende sollten ebenso in der Achse bleiben, die Dissoziation beherrschen und Ochos, Boleos oder Ganchos tanzen können.

Springen wir mal knapp 30 Jahre zurück: Wie hast du als lesbische Frau in den Neunzigern zum Tango gefunden? Damals gab es ja noch keine Queer-Szene …

Ich sollte im Rahmen meiner Ausbildung als Fotografin eine Person porträtieren, die etwas mit großer Leidenschaft verfolgt. Ein Bekannter von mir war damals völlig tangoirre und ich fragte ihn, ob ich ihn begleiten könne. So kam ich auf meine erste Milonga, 1991 im Chamäleon. Ich hörte die Musik im Treppenhaus, und schon da passierte etwas mit mir. Oben angekommen, stellte ich meine Fototasche ab und beobachtete den ganzen Abend die Tänzer*innen. Ich sah in diesem Tanz schon damals einen zutiefst menschlichen Ausdruck, der weit über das Mann-Frau-Schema hinausgeht. Das hat mich tief berührt und nie wieder losgelassen. 

Gingst du danach gleich in den Tanzunterricht?

Nein, die Ausbildung ließ mir keine Zeit. Aber ein paar Jahre später erzählten mir Bekannte von einem Kurs, den sie besuchen wollten. Ich war sofort dabei. Ulrike Schladebach gab diesen reinen Frauenkurs. Das gleichzeitige Lernen beider Rollen war damals nicht üblich und so musste sich jede von uns für eine Rolle entscheiden. Ich wählte das Führen, weil das Stereotyp der folgenden Frau so überhaupt nicht meinem Selbstverständnis entspricht. Ein halbes Jahr später hatte ich dann einen mind-blowing Moment, als ich einen Auftritt der Gruppe „Tango Mujer“ sah. 

Was genau hat dich gepackt?

Ich sah in der Bühnenshow der sechs Tänzerinnen zum ersten Mal etwas, das sehr weit weg war von den üblichen Tangostereotypen. Das und die ungewohnt poetische Tanzsprache aus dem modernen Tanztheater haben mich tief bewegt. Ich fragte eine der Tänzerinnen, Brigitta Winkler, ob ich die nächsten Proben und Auftritte in Berlin fotografisch begleiten könne. Sie war einverstanden. Ich ging danach mit der Gruppe sogar auf Tournee durch die USA und Kanada. Unterwegs verkaufte ich meine Fotos und gab hin und wieder Workshops für queere Tangotänzer*innen vor Ort.

Der Beginn einer beruflichen Neuorientierung?

Ja, und Beginn einer Selbsterforschung und Tanzreise, die seit 23 Jahren anhält. Und die neben dem intensiven Tangostudium auch in den modernen Tanz, die Contact Improvisation und die somatische Tanzarbeit geführt hat. Diese Erfahrungen gebe ich in meinem Unterricht an alle meine Schüler*innen weiter, egal ob queer oder nicht. Die Teilnehmer*innen meiner Kurse lernen von Anfang an beide Rollen kennen und haben immer die Möglichkeit, sich im Laufe ihres Lernwegs stärker auf eine Rolle zu konzentrieren. Das bietet viel Freiheit, sich und das Tanzen zu erforschen.

Seit 2011 veranstaltest du das Internationale Queer-Tango-Festival. Was ist dir dabei besonders wichtig?

Ich nehme nur Künstler*innen ins Festivalprogramm auf, die sich für die Förderung des Queer-Tangos einsetzen. Schwul, lesbisch oder transsexuell zu sein, reicht nicht, um auftreten zu können. Bei der Auswahl aller Lehrer*innen, Künstler*innen und DJs achte ich auf eine Balance zwischen Männern und Frauen. Ansonsten freue ich mich, wenn auch nicht-queere Tänzerinnen und Tänzer zu den Workshops und Milongas kommen. Das Festival ist offen für alle Menschen und die gesamte Tango-Community der Stadt!

Noch mehr Interviews mit Berliner Tangoschaffenden gibt es hier und im Tango-Guide Berlin.